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Interview

Raven im Wandel der Zeit

Anke van Engelshoven, Lena Ries und Romy Seibt – gemeinsam sind sie still hungry, eines der wenigen rein weiblich gelesenen Kollektive für zeitgenössischen Zirkus in Deutschland. Ein Umstand, über den sich die drei Artistinnen und Mütter bewusst sind und der – neben anderen gesellschaftlichen Missständen –  eine kritische Auseinandersetzung in der 2019 gemeinsam mit dem Chamäleon entwickelten Kreation Raven erfährt. Dabei greifen sie auf starke Bilder, eine ordentliche Portion Humor und eine Mischung genreübergreifender Mittel zurück. Heraus kommt ein feministisches Stück, dass sich stets weiterentwickelt –  mit der Zeit geht, berührt und Mut macht. Mut, über Themen zu sprechen, wie die Vereinbarkeit von Mutterschaft und künstlerischer Arbeit und auch den negativ konnotierten Begriff der „Rabenmutter“, aus seinen gesellschaftlich konstruierten Mustern zu hebeln und umzuinterpretieren. Mittlerweile sind sie mit ihrer Kreation international unterwegs. Zum Auftakt ihrer anstehenden Kanada Tournee erhaschen wir noch einen kurzen Moment, um gemeinsam auf das, was kommt und das, was war, zu blicken.

Raven by still hungry

Wie schön, dass Ihr die Zeit gefunden habt – und das trotz all des Trubels, der Euch aktuell begleitet! Wie geht es Euch so unmittelbar vor Eurer Kanada Tour? Mit welchem Gefühl begegnet Ihr dem Ganzen – schwingt da noch die Aufregung mit oder seid Ihr mittlerweile so routiniert, dass es sich eher nach ‚Urlaub‘ anfühlt?

Romy: Urlaub? Ne, ne! (lacht)
Das ist schon alles noch sehr aufregend für uns und wir freuen uns total, dass es losgeht. Die Kanada Tour ist ja nun pandemiebedingt um zwei Jahre verschoben worden, deshalb ist es ein total schönes Gefühl, dass wir nun endlich, endlich aufbrechen können – nach Paris geht es nächste Woche ja auch noch! Danach kommen wir noch einmal kurz wieder und fliegen im Anschluss nach Kanada. Das ist für uns alles ziemlich spannend – auch oder vor allem, weil wir sowas noch nicht gemacht haben. In der Regel sind wir an einen Ort gereist und haben dort gespielt. Und jetzt haben wir gleich zehn Orte vor uns!

Wow! Zehn Orte! Und alle in nur einem Monat, oder?

Anke: Zehn Orte in fünf Wochen, aufgeteilt auf 17 Vorstellungen. Und das alles quer durchs Land; das sind teilweise wirklich große Distanzen, die wir von einem zum anderen Standort zu überbrücken haben. Da sind wir dann auch mal auf Flüge angewiesen und dahingehend gestaltet sich die Aufregung dann eher logistisch: „Hoffentlich kommt unser Gepäck auch an!“ Das sind dann eben die Sachen, bei denen wir früher oder später feststellen, nicht mehr in der Hand zu haben, ob alles gut geht. Also toi toi toi, dass auch wirklich alles funktioniert!

Gehen wir erst einmal vom Besten aus; unsere Daumen sind in jedem Fall gedrückt!
Gibt es denn etwas, worauf ihr Euch total freut oder auch das komplette Gegenteil?

Lena: Also, ich glaube Reisen ist – so schön es auch sein mag, immer ein bisschen anstrengend. Wir sind dieses Mal ja sogar in verschiedenen Zeitzonen unterwegs, müssen viel Autofahren, viel Fliegen und Auf- und Abbauen. Das ist zwar alles nicht unanstrengend, aber ich glaube, grundsätzlich überwiegt die Freude. Wir sind ein gutes, eingespieltes Team – da machen wir uns keine Sorgen, dass wir das nicht schaffen. Aber klar, anstrengend ist es natürlich auch immer.

Schön, wenn die Freude am Ende trotz all der Aufregung dennoch überwiegt!

Anke: Ja, es wäre traurig, wenn nicht (lacht).

Na Ihr habt ja auch wirklich lange genug darauf gewartet, dass es jetzt endlich losgehen kann.
Mit Raven hattet Ihr auch die Intention, den Begriff der „Rabenmutter“, der in Deutschland sehr negativ konnotiert ist, umzuinterpretieren. Wenn Ihr nun auf die letzten Jahre zurückschaut: Würdet Ihr sagen, es ist Euch gelungen und stellt Ihr vielleicht sogar Veränderungen der Publikumsreaktionen fest?

Romy: Ja, ich finde schon. Vor allem das eigene Verständnis hat sich – bezogen auf die Frage, wie man den Künstler:innenberuf und das Mutterdasein unter einen Hut bekommt, verändert. Das Selbstvertrauen oder auch Selbstbewusstsein ist gewachsen.
Und das, was uns an Publikumsreaktionen erreicht, bestätigt uns total. Nicht nur von Müttern, sondern von allen möglichen – Männern, Künstler:innen, alle eben; Menschen (lacht)! Das ist total toll. Gleiches gilt meiner Meinung nach, wenn man einen Blick in die Zeitungen wirft und sieht, was es mittlerweile für Interviews und Artikel gibt. Die Thematik steht immer öfter im Mittelpunkt: Frauen auf der Bühne. Dazu beitragen tut übrigens auch der neu gegründete Bühnenmütter e.V. Gerade passiert gesellschaftlich eine ganze Menge und so langsam verändert sich die Sicht auf die Dinge. Aber natürlich gibt es immer noch viel zu tun: der allgegenwärtige Gender Gap in Sachen Bezahlung und all solche Missstände. Denn wenn wir das alles noch einmal etwas genauer betrachten, fällt schon auf, dass sich im Bereich Theater doch noch nicht so viel verändert hat. Aber immerhin sind viele Prozesse angestoßen, das ist auch schon mal etwas.

Lena: Ein konkretes Beispiel dafür, dass sich etwas tut, fällt mir noch ein: Im September und Oktober 2022 waren wir in Neufundland. In unserem Stück gibt es eine Szene, in der Anke einen Anruf von ihrer Agentin bekommt, in dem sie ihr ein absolut unmögliches Jobangebot unterbreitet. Das hat im Nachgang tatsächlich eine Diskussion angeregt: Am nächsten Tag beim Frühstück saßen die Agenten u.a. vom Cirque du Soleil zusammen und haben darüber diskutiert, wie man Jobbeschreibungen künftig anders formulieren könnte. Das war schon ein kleiner Erfolg – zu sehen, dass wir auch auf der professionellen Ebene Denkanstöße anregen. Wie werden Frauen im Zirkus betrachtet? Mittlerweile gibt es auch immer mehr Stücke und Kollektive von Frauen. Eine schöne Entwicklung.

Romy, Du hast mal gesagt, dass man den Begriff und auch das Dasein als „Rabenmutter“ manchmal einfach feiern sollte – ganz nach dem Motto: „Ich bin nicht ‚nur‘ Mutter, sondern habe auch ringsherum Dinge, die mich begeistern.“ Würdet Ihr sagen, dass auch Ihr diese Einstellung mittlerweile noch mehr verinnerlicht habt und vielleicht sogar richtig lebt?  

Romy: Ja (lacht)! Ich habe schon das Gefühl, dass sich die Selbstwahrnehmung und auch das Selbstverständnis positiv verändert haben. Diesen Teil von uns, der das abfeiern kann und selbstbewusst vor sich herträgt, den gibt es eben auch. Die Frage bleibt aber dieselbe:  Wie schaukelt man das alles – Partner:in; Künstler:innen- und Mutterdasein. Diese Zerrissenheit wird wohl immer irgendwie dazugehören. Zwar können wir inzwischen viel offener mit ihr umgehen; allgegenwärtig ist sie dennoch. Ich habe auch den Eindruck, dass sich das nicht mehr groß ändern wird. Man akzeptiert immer mehr, dass das Gefühl der Zerrissenheit, der innere Konflikt nicht an zwei Orten gleichzeitig sein zu können, dazugehört. Nach und nach stellt sich dahingehend eine gewisse Gelassenheit ein. Wobei man natürlich auch sagen muss, dass unsere Kinder immer größer und selbständiger werden, was auch nochmal vieles verändert.

Wie habt Ihr die Pandemiezeit und somit auch die spielfreie Zeit wahrgenommen? Gab es da eher Rückschritte in Sachen traditioneller Rollenverteilung? Oder hat Euch das nicht wirklich tangiert?

Anke: Zunächst war die Veränderung recht heftig wahrzunehmen: Man war wieder Zuhause, hat gekocht, via Homeschooling unterrichtet und eigentlich alle möglichen Rollen gleichzeitig bespielt. Für den ersten Moment war’s echt ein Rückschritt. Dann hat es sich aber wieder etwas gelockert – auch weil es viele Diskussionen darum gab, dass die Pandemie die Rückkehr traditioneller Rollenmuster befeuert. Allein durch diese Sichtbarkeit hat sich das Bewusstsein geschärft.
Im nächsten Schritt hat sich dann unser Arbeitsschwerpunkt verschoben: Dadurch, dass wir auf einmal viel mehr mit Förderungen, Anträgen, Sachberichten und allgemein Bürokratie zu tun hatten, hat sich unser Fokus eher an den Schreibtisch verlegt. Und von da aus ging es dann aber zum Glück zurück zum Proben, was wir – dank all der Unterstützung, weitermachen durften.

Wie haben Eure Kinder die Zeit wahrgenommen; sprecht ihr mit ihnen über die Herausforderung alles unter einen Hut zu bekommen?

still hungry: (einstimmig) Ja.

Lena: Auch, wenn wir dieses Stück gemeinsam entwickelt haben, sind wir trotzdem alle drei in unterschiedlichen Situationen – auch Zuhause. Was bei uns allen aber ähnlich ist: Wir führen kein regelmäßig geordnetes Leben, wie es vielleicht bei anderen Familien der Fall ist. Manchmal sind wir über einen längeren Zeitraum nicht Zuhause. Das sind alles Sachen, die unsere Kinder natürlich hautnah mitbekommen.
Am Anfang haben wir dann schon über genau solche Umstände gesprochen und unser Stück erklärt. Dabei ist uns aufgefallen, dass sie eine ganz andere, kindliche, naive und offene Sicht auf unser Stück hatten. Für sie waren zum Beispiel andere Elemente unseres Stücks witzig, als für Erwachsene.

Eure Kinder sind ja sogar in Form von Bildmaterial Teil Eures Stücks. Was geht Euch in dieser Szene durch den Kopf?

Anke: Ich bin dann immer sehr berührt, sie zu sehen. Und es erinnert mich an die Produktionszeit, da sie zu dem Zeitpunkt natürlich auch noch viel kleiner und jünger waren. Das hat etwas Nostalgisches und ist ein wirklich schöner Moment. Als würden Sie tatsächlich mit uns auf der Bühne stehen. Das ist so nahbar und man fühlt sich einfach sehr verbunden. Ich finde es auch einfach toll, dass sie miterleben, wie wir für unseren Job oder unsere Leidenschaft kämpfen und was es heißt, Aufs und Abs zu durchleben. Ich finde, das ist ein schönes Vorbild für die Kinder.

Und warum habt Ihr Euch dazu entschlossen, Eure Kinder so im Stück zu integrieren?

Lena: Ich denke, das macht es noch nahbarer, noch echter. Spätestens in diesem Moment wird deutlich, dass das, was das Publikum da auf der Bühne sieht, die Realität und ein autobiographisches Stück ist. Das ist wie ein roher Moment, der nochmal alles zusammenbringt und uns zurück auf den Boden der Tatsachen holt. Ohne diese Szene wäre es ein ganz anderes Stück.

Romy: Dieser Moment zeigt quasi den Ist-Zustand, der nicht bewertet und gar nicht erst versucht, sich irgendwie einordnen zu lassen. Die Kinder spielen für sich, das hat nichts mit uns zu tun, sondern wir zeigen einfach, wie unsere Kinder so sind. Alles kann und darf existieren. Alles hat seinen Platz und da muss man lernen mit umzugehen. Und gleichzeitig ist dieser Moment auch eine Art Reality-Check, wie Lena schon meinte. Das ist unsere Geschichte. Und vielleicht auch die Geschichte von anderen:  Diese Szene holt andere in ähnlichen Situationen ab – und dabei ist es ganz egal, welchen Beruf du hast –  und erinnert daran: „Hey, wir lieben unsere Kinder so sehr und sie lieben uns und das ist am Ende das Wichtigste.“

Gibt es zwischendurch auch mal Momente, in denen Ihr Euch unwohl damit fühlt, so viel Persönliches preiszugeben? Fühlt sich das für Euch manchmal nach einem emotionalen „Striptease“ an?

Anke: Am Anfang war das schon ein merkwürdiges Gefühl und sehr herausfordernd, sich so zu öffnen und auch das Vertrauen zu haben, dass das schon gut ankommen wird. Wir sind diesen Prozess Stück für Stück gemeinsam gegangen und haben uns im nächsten Stepp dann künstlerisch abstrahiert. So fanden die Botschaften durch Körperlichkeit oder Abstraktion immer eine schöne Sprache.

Lena: Ja genau, wir sind da reingewachsen. Aber auch daran gewachsen. Haben gelernt, uns selbst zu vertrauen und Dinge auszusprechen. Bei der allerersten Aufführung war das schon ein krasses Gefühl – daran erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Im Nachgang haben wir uns dann hier und da noch einmal verschiedene Elemente angeschaut und angepasst.

Romy: Ohne diese absolute Ehrlichkeit würde das Stück nicht funktionieren. Wenn es nicht zu hundert Prozent authentisch wäre, wäre es einfach nur ein Fake und wir hätten es nicht mit gutem Gewissen auf die Bühne bringen können. Die persönliche Verortung im Stück war uns sehr wichtig.

Verstehe. Das heißt, Ihr passt Euer Stück regelmäßig an und aktualisiert es?

Romy: Richtig. Je nachdem, wie sich auch die Lebenssituationen, das eigene Alter oder auch das der Kinder über die Zeit verändert, passen wir die Texte entsprechend an. Vor allem diejenigen, die live gesprochen werden. Als bei mir persönlich ein Umschwung im Privatleben passiert ist, habe ich aber auch gemerkt, dass ich da erst einmal gar keine Worte für hatte. Ich wusste, ich muss das mit auf die Bühne bringen, sonst fühle ich mich nicht wohl. Aber es hat auf jeden Fall seine Zeit gedauert, das in den Bühnenkontext zu übersetzen. Alles zu durchdenken und auch die Körperlichkeit anzupassen, dauert dann manchmal eben einen Moment. Gleichzeitig denke ich aber auch, dass das zusätzlich differenziert zu betrachten ist: Wer verändert was im jeweiligen Act? Wie ist die Stimmung heute, wie das Publikum? Das sind manchmal eher schleichende Prozesse.

Anke: Ich glaube, dass das Stück wirklich das Potenzial in sich trägt, noch viel mehr mitzuwachsen, als es aktuell schon der Fall ist. Vielleicht könnte man es irgendwann tatsächlich nochmal überarbeiten – neues Bildmaterial, neue Texte und dabei gleichbleibende Struktur. Aber mal sehen, ob wir in zehn Jahren noch Raven spielen (lacht).

Lena: Auf der Bühne nutzen wir ja diese Babypuppen, die symbolisch die Kinder darstellen. Aber natürlich hat eigentlich keine von uns mehr ein Baby Zuhause. Will sagen: Ich denke eigentlich gar nicht darüber nach, dass etwas anders sein müsste. Ich finde, bestimmte Bilder müssen nur in unseren Köpfen mitwachsen oder sich verändern. Ich denke nicht, dass wir bestimmte Sachen anders darstellen müssen, um sie an die jetzige Situation anzupassen.

Und abschließend: Was wünscht Ihr Euch, soll das Publikum aus Raven mitnehmen?

Romy: Ich denke, Raven öffnet eine Tür zur Bereitschaft, sich mitzunehmen zu lassen, darüber nachzudenken, was es in unserer Gesellschaft heißt, Mutter zu sein, darüber zu sprechen und sich auszutauschen. Wir wollen dazu anregen, das auf den Tisch zu packen, was wirklich wichtig ist. Das Feedback kriegen wir auch oft zu hören: Menschen kommen nach dem Stück zu uns, freuen sich und fühlen sich bestärkt, endlich über Dinge sprechen zu dürfen, über die sie bisher nicht öffentlich sprachen. Das berührt mich immer sehr, da ich denke, genau darum geht’s irgendwie: dass die Leute rausgehen, egal ob Mutter oder Nicht-Mutter, miteinander sprechen und ihre Rollen reflektieren.

Weitere Informationen zum Stück und aktuelle Termine gibt es hier.

Beitrag: Alexandra Schwirrat
Fotos: Niamh O’Reilly @solasportraits