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Interview

Im Gespräch: Tobias Wegner erzählt von LEO

Vor über 10 Jahren feierte das Bewegungstheaterstück LEO seine Premiere. Seitdem hat die Produktion Zuschauer:innen auf der ganzen Welt in ihren Bann gezogen und wurde von Kritiker:innen für ihren innovativen Ansatz mehrfach ausgezeichnet. Tobias Wegner, Darsteller und Miterfinder von LEO, war von Anfang an mit dabei. Im Interview blicken wir mit ihm auf die Anfänge von LEO zurück und sprechen über besondere Erinnerungen, unerwartete Herausforderungen und sein einzigartiges Verhältnis zur Figur des LEO.

LEO ist mittlerweile über zehn Jahre alt und hat letztes Jahr die 1000. Show gespielt. Was ist das für ein Gefühl?

Wenn ich darüber nachdenke und zurückblicke, fühle ich vor allem eine riesige Dankbarkeit, Glück und auch Stolz, dass die Qualität des Stücks über die Jahre und die vielen Vorstellungen hinweg so hochgehalten werden konnte und LEO bis heute an so vielen Orten gefragt ist und gezeigt wird. Mit einem so nachhaltigen Erfolg der Produktion hatte ich natürlich überhaupt gar nicht gerechnet.

Kannst du uns ein wenig von der Anfangszeit von LEO erzählen?

Als wir 2011 mit LEO in die Previews gestartet sind, hatte ich eher ein mulmiges Gefühl und wusste nicht so richtig, was mich erwarten bzw. wie das Stück ankommen würde. Ein Kritiker aus Edinburgh hatte dann eine der ersten Vorstellungen im Chamäleon gesehen und meinte, es habe ihm ganz gut gefallen – das war schon mal ein positives Signal. Danach ging es zur Premiere auf das Fringe Festival in Edinburgh und dort haben wir dann losgelegt: In einer kleinen Kirche vor 30 Zuschauer:innen, ohne Backstage und ohne Sanitärbereich, in diesem krassen Festivalrhythmus, wenn Auf- und Abbau ganz schnell gehen müssen. Da hatte ich dann auch wieder sehr gemischte Gefühle. Aber dann ging alles ganz schnell. Wir bekamen sehr gutes Feedback vom Publikum, von der Presse, haben Preise gewonnen und erste internationale Einladungen erhalten. Und dann erstmal das totale Kontrastprogramm und nach vier Wochen Festival-Wahnsinn war komplette Stille. Im Nachhinein vergleiche ich es mit einer Tsunamiwelle – wenn sich das Wasser erstmal zurückzieht. 2012 kam die Welle dann mit geballter Kraft zurück und LEO hatte 150 Vorstellungen auf der ganzen Welt.

Was hat sich mit der Zeit verändert?

Anfangs, als es mit LEO losging, war es ein für mich bis dahin ganz unbekanntes Gefühl, mit einer Produktion derart gefragt zu sein und in so viele Länder eingeladen zu werden. Ich war dann eine Zeit lang wie in einem Autopilot-Modus und habe versucht, alles mitzunehmen, ganz viel zu machen und zu genießen. Irgendwann hat aber das gesamte Team auf Tour gemerkt, dass man diese Intensität nicht auf Dauer durchhalten kann. Andere Darsteller und weitere Techniker:nnen sind dazu gekommen und wir haben das Touring auf mehr Schultern verteilt. Dann kamen meine Kids in die Schule – die Show ist älter als mein zweitgeborener Sohn – und ich habe versucht, alles auf ein gesundes Maß einzupendeln. Mit der Pandemie hat sich auch nochmal viel verändert. Meine Rolle in der Produktion hat sich gewandelt, ich stehe nicht nur auf der Bühne, sondern organisiere Auftritte im deutschsprachigen Raum. Dadurch fühle ich mich mittlerweile ganz neu verbunden mit dem Stück. Nicht nur spielen, sondern auch organisieren, mit aufbauen und wirklich verstehen, was da alles mit dranhängt.

Hat sich im Laufe der Zeit dein Verhältnis zur Figur verändert?

Auf jeden Fall hat mich LEO über die Jahre immer wieder inspiriert, besonders die Art, wie er mit Widrigkeiten umgeht. Wenn ich in die Rolle reinschlüpfe, kann ich sie vielleicht auch deshalb so gut ausfüllen, weil ich sie als eine Art Idealtypen wahrnehme. Eine Person, die sich nicht unterkriegen lässt, die in sich ruhen kann, Dinge ausprobiert, scheitert und weitermacht. Das ist manchmal in der echten Welt gar nicht so einfach. Dadurch hatte es für mich etwas sehr Inspirierendes, immer wieder in LEOs Kiste flüchten zu können. Er erinnert mich daran, die Dinge zu relativieren, die Perspektive zu ändern und dranzubleiben an den Dingen, die mir Spaß machen oder guttun.

Mit der Zeit haben wir uns vielleicht auch gegenseitig beeinflusst. Ich habe dank LEO wahnsinnig viele Erfahrungen gesammelt, viele Leute kennengelernt und immer wieder viel Verantwortung getragen. Und ob privat durch meine Familie, mein zunehmendes Alter oder einfach meinen persönlichen Reifeprozess: Das waren alles Entwicklungen, die mir dabei geholfen haben, der Figur noch weitere Facetten zu geben.

Wie bereitest du dich auf neue Auftritte oder anstehende Tourneen vor?

Ich lasse mein Training nie ganz schleifen und versuche, ein gewisses spezifisches Fitness-Level zu halten. Das brauche ich auch generell für mein Wohlbefinden. Natürlich habe ich mittlerweile eine Routine mit LEO und weiß, was mich erwartet und was ich während einer Aufführung leisten muss – das hilft beim Bewältigen. Aber Training hin oder her, einen Schleuderbrett-Act könnte ich heute nicht mehr performen. So spezifische und teils sehr hohe Belastungen kann man in seinen Zwanzigern gut abrufen, aber später muss man ganz schön was dafür tun und es kann kreuzgefährlich werden. Mich jetzt mit Anfang/Mitte 40 noch als Akrobat wahrzunehmen, finde ich auch Quatsch, das bin ich nicht mehr.

Wie würdest du dich jetzt beschreiben?

Performer, Darsteller, Interpret, Kreateur.

Von außen betrachtet, sieht LEO schon sehr fordernd und anstrengend aus.

Das Anstrengende ist oft das tagelange Touring selbst. Aufbauen, Einrichten, Spielen, Abbauen und dann zu dritt im Truck noch zwei Stunden lang zum Theater fahren, das hat nichts mit Glamour zu tun und ich merke ich schon nach ein paar Tagen, wie es muskulär zehrt und anstrengend wird. Aber irgendwie liebe ich auch diesen Unterschied zur kreativen Arbeit. An einem Aufführungstag sitzen die Abläufe mit den Techniker:innen, alles ist wie durchchoreographiert, da gibt’s keine Grauzone, außer wenn manchmal ein bisschen Troubleshooting gebraucht wird. Am Ende vom Tag ist es ein unglaublich befriedigendes Gefühl, wenn alles geklappt hat und ein begeistertes Publikum entlassen wird.

Gibt es denn besonders schöne Erlebnisse, die dir in Erinnerung geblieben sind?

Ja, die Auftritte 2012 im Iran waren toll. An einem Tag haben wir eine Doppelshow gespielt und danach haben noch mehr Leute gegen die Theatertür gehämmert und wollten auch. Am Ende haben wir tatsächlich gesagt: „Komm, wir spielen noch eine.“ Das war dann die dritte Vorstellung. So etwas haben wir auch wirklich nur einmal gemacht und es ging nur, weil ich Dank eines wochenlangen Runs vorher in New York topfit war. Generell habe ich es natürlich sehr genossen, mit LEO an so viele Orte reisen zu dürfen. Orte, von denen man als Tourist nur träumen kann. Besonders die kulinarischen Erkundungen haben mir persönlich viel Spaß gemacht. Das Schöne ist ja, das man mit einer geladenen Produktion auch sehr umsorgt wird, meist hat man mit einheimischen Festival- oder Theaterleuten zu tun, die stolz sind, ihre Orte zu präsentieren und viele Tipps zu geben. Über die vielen Erfahrungen bin ich, wie gesagt, sehr dankbar und glücklich.

Und was waren herausfordernde Momente?

Ich weiß nicht, wie viele LEOs wegen technischer Probleme ausfallen mussten. Vielleicht eine handvoll – bei über 1000 Shows. Nie wegen Krankheit, sondern eher, weil man zum Beispiel irgendwo ankommt und feststellt: die Bühne ist zu niedrig, hier passt die Leinwand nicht hochkant drauf, oder der Beamer fängt an zu spinnen und man findet den Fehler ewig nicht. Dann darf man – wie LEO selbst – den Mut nicht verlieren (lacht). Eine große Herausforderung ist natürlich auch der ganze Festival-Modus, wie nicht zuletzt in Edinburgh, wenn man innerhalb von 20 Minuten das Set der Produktion vorher rausreißen und das eigene aufbauen muss. Oder einmal bin ich mit einem Flugzeug steckengeblieben, weil irgendeine deutsche Luftraumüberwachungssoftware abgestürzt ist. Ich sollte eigentlich nach Montreal fliegen, um am nächsten Tag beim Complètement Cirque Festival aufzutreten. Stattdessen habe ich in München auf einem Feldbett im Terminal übernachtet und bin am nächsten Tag mit einem neuen Flug über Genf, der Zeitverschiebung sei Dank, nach Montreal geflogen. Vom Flughafen hat mich der dort lebende Regisseur höchstpersönlich abgeholt. Ich habe dann ein Eis geschleckt, in der Sonne einen Espresso getrunken und bin vor 800 Leuten auf die Bühne gegangen. Das soll keine Angeberei sein, es ist nur ein gutes Beispiel dafür, dass man manchmal die Dinge eben nicht in der Hand hat.

Mit so vielen Erfahrungen, die du über die Jahre gesammelt hast, gibt es etwas, dass du angehenden Künstler:innen mit auf den Weg geben möchtest?

Boah, das ist wahrscheinlich die schwerste Frage – auf jeden Fall brauchen wir jede Menge angehende Künstler:innen! Aber ich weiß nicht, ob mir altem Säckel da überhaupt jemand zuhören möchte…

Ich glaube, die Entscheidung müssen wir den Leser:innen überlassen.

Ich würde sagen, am Ende muss jede:r für sich selbst wissen, was er oder sie bereit ist, zu geben und zu opfern. Und auch dann gibt es für nichts eine Garantie, niemals, in diesem Job. Ich hatte ganz viel Glück. Denn ich war weiß Gott nicht der beste oder fleißigste Akrobat. Ich hatte Glück, dass sich so ein Cocktail aus Eigenschaften bzw. Skills zusammengebraut hat. Denn ich war zum Beispiel nach der Artistenausbildung erstmal eine ganze Weile im zeitgenössischen Tanzbereich unterwegs, hatte keinen Bock auf das klassische Variété-Format. Genau das hat dann aber dazu geführt, dass ich ins Chamäleon eingeladen wurde, als dort eine Produktion namens „My Life“ aus der Taufe gehoben werden sollte, bei der Artist:innen gesucht wurden, die ein eher ungewöhnliches und breiter gefächertes Skillset hatten.

Ich könnte sagen, wenn’s mal nicht weitergeht, nutze die Zeit, baue vor und füttere dein Gehirn. Aber ist das immer das Richtige? Oder ich könnte sagen, setz nicht alles auf eine Karte – aber genau das macht manchmal den Unterschied, wenn man sagt was soll‘s, ich beiße mich weiter durch. Und irgendwann klappt es dann vielleicht auch, weil man hartnäckig geblieben ist. Mit meiner ganzen Erfahrung kann ich nur das Resümee ziehen: man weiß es einfach nicht. Jede:r muss es für sich selbst spüren. Was bestimmt hilft, ist sämtliche Augen und Ohren offenzuhalten und immer eher JA zu sagen als NEIN. Gerade am Anfang, wenn man noch auf der Suche ist und erstmal herausfinden will, was einem liegt und gefällt. Am besten sollte man versuchen, viele Erfahrungen zu sammeln, sich einzubringen und, wenn möglich, Herausforderungen mit wachem Geist und mit Spaß an der Sache zu begegnen – dann kann Großartiges passieren. Das habe ich auch von LEO gelernt…

Weitere Informationen zum Stück und aktuelle Termine gibt es hier.

Beitrag: Dagmar Helmer
Fotos: Lucia Gerhardt