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Das Lebendige Lexikon

Stil, Präzision und Anmut

Einblicke in Voguing und Ballroom mit Anna Shvedkova

 

Zum ersten Mal vom Tanzstil ‘Voguing’ hört Anna 2016 in ihrem letzten Jahr an der staatlichen Artist:innenschule Berlin. Der damalige Contemporary Tanzpädagoge Kelvin O. Hardy hat mit ihr den Absolvent:innen-Act am Tanztrapez choreografiert. Er zeigte ihr ´catwalks´, eines der 5 Elemente aus der Kategorie ‘vogue femme’, weil er findet, dass diese Bewegungen zu ihrem Performancestil passen. „Damals war es nur ein Tanzschritt für mich, dabei ist es so viel mehr. Danach hatte ich erstmal keinen Kontakt mit Voguing und schon gar nicht mit der Ballroom-Szene.“

Im Frühjahr / Sommer 2018 ist Anna auf Tour und wird von einem ihrer damaligen Kollegen im Cast gefragt, warum sie nicht mehr tanze, wie zu Beginn ihrer Reise als Performerin. Sie selbst gibt an, diesen sehr wichtigen Teil ihres Lebens, jahrelang ausgeblendet zu haben, um sich voll und ganz auf die Artistik zu konzentrieren. „Erst dann wurde mir klar, was ich all die Jahre vermisst habe. Ich hatte keine gute Antwort auf die Frage meines Kollegen, außer, dass ich mal etwas von ‘Voguing’ gehört habe, jedoch nicht wusste wo und wie ich wieder anfangen sollte.“

Er gibt ihr daraufhin den Namen von Annas jetziger House Mother – Georgina Philp (Leo ex. Melody, heute St. Laurent) und empfiehlt ihr, ihren Voguing Unterricht zu besuchen, wenn sie wieder zurück in Berlin ist. Georgina ist die Wegbereiterin der deutschen Ballroom-Szene und hat, nachdem sie in New York City mit der dortigen Kultur in Kontakt kam, im Jahr 2011/2012 Voguing nach Deutschland gebracht.

Zurück in Berlin besucht Anna die Voguing Classes des damaligen House of Melody und verliebte sich sofort in den Tanz, die Menschen und die Musik. Sie ist berührt und fasziniert von der Geschichte und der politischen Kraft dieser Subkultur. Mit „House“ ist in dem Sinne kein Haus, Gebäude, Ort o.ä. gemeint. In der Ballroom-Szene ist ein House eine Art Dance Crew, Sportteam, auserwählte Familie. Das House Of Melody, sprich einzelne Mitglieder, haben damals im motion*s Tanzstudio in Berlin unterrichtet.

„Es war, als hätte ich endlich einen Raum für mich gefunden, in dem ich eine Seite an mir, die ich vorher immer verstecken oder etwas runterschrauben musste, zeigen konnte und dafür sogar zelebriert und unterstützt wurde. Es hat mir lange gefehlt, mit anderen People of Color Zeit, Raum, Kunst, Liebe und andere Bereiche meines Lebens zu teilen. Es ist ein ganz anderes Verständnis da, weil man oft ähnliche Struggles hatte und noch immer hat. An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass ich als cis, hetero gelesene Frau sehr privilegiert bin, im Vergleich zu anderen Bodies.“ Anna nimmt von August 2018 regelmäßig an Voguing Classes und Sessions teil und ist seit Mitte November 2018 Mitglied des damaligen House Of Melody, heute House Of Saint Laurent.

 

Photo by Victor Hensel-Coe

Die erste Form des Voguing ist der sogenannte „Old Way“ (original Pop, Dip & Spin) in dem sich neben dem Posieren viele Bewegungen aus Breakdance, Popping, Tutting und Martial Arts wiederfinden. Performt wird zu Musik wie Funk, Disco und House. Der Tanzstil entstand (wie alle anderen Kategorien) aus dem „Posing“.

Vor dem eigentlichen Tanz wird bei Battles geposed. Positionen und Haltungen werden dann immer schneller verändert und die Übergänge flüssiger. Charakteristisch für Old Way sind Linien, Symmetrie und Präzision. Aus dem „Old Way“, entwickeln sich im Laufe der Jahre weitere Voguing Stile: New Way und Vogue Fem. Wichtig ist, dass „Posing“ und „Old Way“ zwei unterschiedliche Kategorien sind. So wird bei „Old Way“ Battles anfangs nicht gegeneinander geposed. Der Stil ist lediglich aus dem „Posing“ entstanden.

New Way ist ein Stil im Voguing der charakteristisch komplex, abstraktere und geometrische Bewegungsabläufe enthält. Boxen, Linien, Illusionen werden mit dem ganzen Körper kreiert. Performt wird auf 90s House Musik.

Vogue Fem ist ein Stil der ursprünglich von DragQueens und FemQueens (Ballroom-Begriff für trans Frauen) kreiert und später auch von Cis-Frauen und Butch Queens (homosexuelle Cis-Männer) aufgegriffen wird.  Vogue Fem zielt auf eine hyper-weibliche Energie und Präsentation des eigenen Körpers ab. Die fünf Elemente, bestehend aus Catwalks, Handsperformance, Spin & Dip, Duckwalks und Floorperformance sind kennzeichnend für diesen Stil.

Für Anna ist das Wichtigste, einen eigenen Stil zu entwickeln. Ihre Kategorien sind New Way und Sex Siren. Bei ihrer künstlerischen Darbietung im Stück „in_between“ zeigt sie Elemente aus New Way und Vogue Femme.

Stil, Präzision und Anmut (Style, Precision and Grace) sind für Anna unabdingbar. „Es ist ein zeitloses Mantra, dass kein:e Voguer:in je vergessen darf. Mir sind natürlich auch Musikalität, Kreativität, Innovation, Details, Persönlichkeit, Attitude, eine Geschichte, überraschende Elemente, Fashion und Eleganz wichtig. Vor allem aber, dass die:der Performer:in keine Kopie von jemandem ist, sondern sie sich selbst frei davon zeigt.“

 

Photo by Carolin Windel

In Annas Augen ist Voguing mehr als nur ein Tanzstil. „Die Ballroom-Szene ist von und für unterdrückte queere BIPoC Bodies, vor allem Transfrauen, die sogenannten „mothers“ der Szene geschaffen und ins Leben gerufen worden. Sie ist kein Allgemeingut und gerade weiße cis Personen müssen sich bewusst sein, dass sie zwar als Gäste willkommen sind, der zentrale Raum jedoch immer den Menschen vorbehalten sein muss, die diesen Safe Space mehr brauchen, als sie selbst.“

Die Aufmerksamkeit, die die Ballroom-Kultur von Medien und Popkultur vermehrt erhält, ist nicht immer vorteilhaft. Veranstaltungen wie Voguing-Balls werden weniger sicher, durch Kommerzialisierung droht die Ausbeutung von Künstler:innen und das politische Statement droht zugunsten der Ästhetik an Bedeutung zu verlieren. Deshalb ist es so wichtig, dass in Voguing-Tanzkursen zu allererst die Geschichte der Bewegung im Mittelpunkt steht.

Anna rät, zu Sessions und Voguing-Balls zu gehen, zuerst als Zuschauer:in, später als Teilnehmer:in. „Natürlich gehört auch das in Clubs gehen und freestylen dazu. Dokus und Serien wie ‘Paris is burning’ und ‘POSE’ führen zu besserem Verständnis der Geschichte und der Szene. Das alles braucht seine Zeit. Gerade das Selbstbewusstsein und den eigenen Stil zu entwickeln passiert gewiss nicht von heute auf morgen und, wie mit allen neuen Skills, ist Beständigkeit (Consistency) essentiell.“

Ein Tipp von Anna lautet: „Wartet nicht zu lange damit, euren ersten Ball zu laufen. Es ist der beste und effektivste Weg, um zu lernen. Anfänglich kann alles sehr einschüchternd wirken, aber die Battle Situation und das „gejudged“ (bewertet) werden ist ein sehr wichtiger Teil des Voguings, dem man nicht ausweichen kann und vor allem nicht sollte. Du kannst viel lernen und daran wachsen, solange du offen dafür bist und dich mit deinen eigenen Unsicherheiten und Ängsten konfrontierst.“

Auf die Frage, ob Anna Erwartungen oder Wünsche an ihre Zuschauer:innen hat, was sie aus ihrer künstlerischen Darbietung mitnehmen sollen, antwortet sie: „Ich versuche, mit so wenig Erwartung wie möglich an die Dinge heranzugehen. Bei meiner Voguing Performance ist es nicht anders. Auch, wenn es gerade mal zwei Minuten sind, die ich vogue, merke ich immer ein Muster in der Energie des Auditoriums und kann langsam abschätzen, wie das Publikum reagiert. Eingangs können die Leute meist wenig mit meinen Bewegungen anfangen, weil sie nie etwas von Voguing gehört oder gesehen haben. Im ganzen Stück ist es auch die einzige Tanzsequenz in einer reinen Artistikshow. Es geschieht ein abrupter Cut im Showablauf und die Erwartungen der Zuschauer:innen werden gebrochen. Am Ende meiner Performance bleibt das Gefühl von ´ Ich habe keine Ahnung, was das war, aber es gefällt mir ´ in der Luft stehen. Das mag ich und habe großen Gefallen daran.“

 

Photo by Andy Phillipson

 

Von sich selbst sagt Anna, dass sie gerne sowohl im Privatleben, als auch im Beruf damit spielt. „Ich habe Spaß daran gewisse Erwartungen zu brechen und Menschen aus ihrem Schubladendenken heraus zu holen. Meist stehen wir uns selbst am meisten im Weg und schränken unser Leben, durch limitiertes Denken, ein und kommen erst gar nicht dazu, unser volles Potenzial auszuschöpfen. Ich stelle mich nicht hin und halte eine Geschichtsstunde über Ballroom, sondern tanze einige Minuten. Dabei habe ich absolut nicht den Anspruch, dass die Zuschauer:innen hinterher direkt die ganze Geschichte der Ballroom-Szene lernen wollen. Ich hoffe einfach, dass sie dazu inspiriert werden, mehr sie selbst zu sein und sich selbst dafür zu feiern. Vielleicht auch, im Kopf freier zu werden und sich nicht so viele Gedanken über das zu machen, was andere über sie denken könnten. Es ist befreiend. Ich kann’s nur empfehlen.“

Anna ist Teil der finnischen Kompanie Circo Aereo und mit ihrer Voguing Performance noch bis zum 30.07.2023 im Chamäleon zu sehen. Infos gibt’s hier. Ein Besuch lohnt sich!

 

Text: Fine Herzog
Fotos: Victor Hensel-Coe, Carolin Windel, Andy Phillipson